14
Aug
2009

Der Akt ist nackt

Treppenflucht um Treppenflucht kämpfe ich mich bei abendlichen 30°C bis in den fünften Stock der Gewerbeschule im Berner Lorraine Quartier. Am Ende der letzten Treppe steht man in einer Art Glashaus, das den Ausgang auf die Dachterrasse bildet und durch eine unscheinbare zweite Türe gelangt man in den sogenannten "Aktsaal". Durch einen schmalen Gang, der zugestellt ist von Staffeleien, Malbrettern und anderen Zeichenutensilien, gelangt man in einen grossen Raum mit knarrendem Parkettboden. Sehr hoch ist der Raum, ebenso die Fenster, die bis unter die Decke reichen. An der einen Wandseite sind seltsame Böcke mit senkrechten Gestängen aufgereiht, deren Verwendung mit im Moment noch nicht klar ist. Der Lehrer des Akt-Kurses schiebt so eben das Podest in die Mitte des Raumes, auf dem, so nehme ich an, nächstdem das Aktmodell Platz nehmen wird. Ein Mann, der sowohl schon mehrere Semester dieses Kurses auf dem Buckel hat, als auch ansonsten ein älteres Semester ist, zeigt mir wo Staffeleien und die anderen Utensilien zu finden sind. Ich richte mich mit Papier und weichem Bleistift ein und beobachte das Eintreffen der andern Teilneher des Kurses. Männer und Frauen halten sich in diesem Kurs die Waage, ganz im Gegenteil zum letzten, in dem eindeutig die Frauen überwogen. Wie sich herausstellt sind die seltsamen Böcke Vorrichtungen zum draufsitzen und am Gestänge kann man das Zeichenbrett mit dem Papier vor einem fixieren. Fast ganz zum Schluss trifft das Modell ein: Eine gutproportionierte blonde Russin.
In ein Handtuch gehüllt tritt sie auf das Podest und wartet auf die Anweisungen des Lehrers. Der erklärt erst uns wie wir vorgehen werden und weisst ihr dann eine sitzende Position zu. Die junge Frau legt das Handtuch ab und nimmt die gewünschte Position ein. Zuerst skizzieren wir nur schemenhaft, den Hauptlinien entlang. Sehr schnell. Keine Position bleibt länger als ein paar Minuten. Wir sollen noch nicht "abzeichnen", sondern nur versuchen das Wesentliche zu erfassen. Ganz anders als im wissenschaftlichen Zeichen, in dem von Anfang an auf die Details wert gelegt wurde.
Ich folge dem allgemeinen Rhythmus, auch die ruhige Musik hilft, das Denken etwas zu bremsen und sich dem Malen zu überlassen. Ich finde es sehr anstrengend einerseits so schnell und andererseits im Stehen zu arbeiten. Ich arbeite zum ersten Mal an einer Staffelei und mit ununterstütztem Arm.
Das Modell nehme ich nur in den Momenten, in denen ich kurz zurücktrete um zu sehen, was ich gezeichnet habe, als Individuum war. Wenn ich zeichnen, dann "zerfällt" sie für mich in Linien, umschlossene Flächen und anatomische Details.
Im Nachhinein empfinde ich es als seltsam, dass ich zwar in ihrer Nacktheit genau betrachten darf, aber nicht ihren Namen weiss. Intimität und Anonymität zugleich. Aber ich glaube auch, dass es das für das Modell braucht, um diesen Job machen zu können. In der Pause spricht sie auch nicht mit uns, sondern grenzt sich deutlich mit einem Buch von unserer Veranstaltung ab.
Wenn man es mit den Augen eines Ausserirdischen betrachtet, dann wirkt das Ganze schon etwas seltsam: da treffen sich eine Gruppe Leute um einen anderen nackten Menschen zu betrachten. In den Augen unseres ausserirdischen Forschers kann es sich dabei nur um ein besonders abgefeimtes Strafritual handeln, dass der nackte Mensch mit erstaunlichem Stoizismus erträgt.
Nach der Pause nimmt zeichenen wir eine sogenannte "Langzeit-Position", das heisst das Modell muss zirka eine halbe Stunde in ein und derselben Position ausharren. Jetzt dürfen wir auch mehr in die Details gehen und genauer arbeiten. Das "Aufwärmen" mit dem schnellen Zeichnen hat wirklich geholfen schneller zu erfassen, was das wichtigste ist.
Als ich nach zwei Stunden intensiven Arbeitens wieder auf die Strasse in die sommerliche Abendhitze trete, ist es wirklich wie eine Rückkehr von einem sonderbaren andern Stern.

Und hier noch zwei Skizzen von gestern abend (beide sind wieder mit einem Klick zu vergrössern):

Akt-1

Akt-2
Wüstenfuchs

Berner Platte und Chuchichäschtli

Die Schweiz, ihre Klischees, ihre Kultur und Politik durch die Augen einer Deutschen gesehen.

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Aktuelle Beiträge

Oh, die sind aber schön!
Sehr plastisch!
diefrogg - 6. Apr, 13:09
Rückkehr nach langer...
Hallo, meine treuen Leser! Da bin ich wieder nach langer...
Wüstenfuchs - 10. Mär, 17:24
Was heisst Alphorn auf...
...diese Frage habe ich mir anlässlich des Jodlerfests...
Wüstenfuchs - 19. Jun, 20:01
Das wird schon! Toi,...
Das wird schon! Toi, toi, toi!
Larne - 18. Jun, 18:05
Wahnsinn!
Ihr habt bekommt also auch ein neues solches Teil!...
diefrogg - 18. Jun, 13:42

Mein Lesestoff


Siri Hustvedt
Der Sommer ohne Männer

RSS Box

Verzeichnisse

Blogverzeichnis - Blog Verzeichnis bloggerei.de Blogs Technorati Profile Add to Technorati Favorites

kostenloser Counter

Web Counter-Modul

Free Text (4)

Gesehene Filme

Suche

 

Status

Online seit 5960 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 6. Apr, 13:09

Credits